Portraits

  • Sonjas Stimme

    Sonjas Stimme

    Die Geschichte der Transfrau Sonja Götz erzählt vom Sein und Werden, von Identität und Körper

    In einem Wohnzimmer im Woogsviertel steht ein Mikrofon mit einem kleinen Verstärker daneben. Es steht dort für eine Stimme in Ausbildung, in Ausformung, für eine Stimme, die immer femininer klingt, immer klarer und lauter. Es ist eine Stimme, die erzählt von Freiheit und Frust, vom Sein und Werden.

    Sonja Götz sitzt gemütlich auf dem flauschigen Fell ihrer Couch. An den Füßen trägt sie kuschlige Wollstrümpfe, ihr zierlicher Körper ist gehüllt in ein schwarzes Wollkleid mit dezenten Glitzerfäden. Sie klappt ein Fotoalbum auf beginnt zu blättern. Kindheitsfotos. Ein zart lächelnder Junge in Schwarzweiß. „Es gibt Bilder von mir, wo ich mich ganz stark sehe“, sagt sie. „Ich bin in meiner Erinnerung damals schon Sonja gewesen.“

    Sonja Götz wurde am 25. September 1974 in Darmstadt geboren. Sie kam in einem männlichen Körper zur Welt und wurde von ihren Eltern Peter genannt. Mehr als vierzig Jahre ging sie so durchs Leben, machte Abitur auf der Marienhöhe, lernte Einzelhandelskaufmann, arbeitete in Spieleläden, studierte Informations- und Wissenschaftsmanagement, später noch Soziale Arbeit und ist seither in der Jugendsozialarbeit beschäftigt.

    Auf der Fensterbank glimmt ein Licht hinter regenbogenbuntem Laternenglas, als die 49 Jahre alte Transfrau ihre Geschichte erzählt. Es ist eine Geschichte von Identität, von Körper, von Stimme. Sie spürte es schon als Junge. „Als sich mit 12, 13 Jahren anfing, mein Geschlecht zu regen, habe ich das als sehr unangenehm empfunden“, sagt sie. „Es war immer belastend, wie ein Fremdkörper, der nicht zu mir gehört.“

    Zu der Zeit fing es auch mit ihrer Leidenschaft für Rollenspiele an. „Das ist ein ganz zentrales Thema“, betont sie. „Ich habe realisiert, dass ich da Frauen verkörpern und mich rantasten kann.“ Wenn jemand lobte, wie gut sie das könne, „war das jedes Mal wie ein warmer Hauch“.

    Schon als Mann hat sie gerne ihre Haare länger wachsen lassen. Aber bis es der halblange Pagenschnitt einer Frau werden sollte, der heute ihre weichen Gesichtszüge einrahmt, war es ein langer Weg. „Ich habe mich lange schwergetan, meine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen.“ Sie sei in der Rolle als Mann groß geworden, habe stets Hetero-Beziehungen zu Partnerinnen gehabt, sich in dieses Korsett gezwängt, teils unter Schmerzen.

    Doch als vor einigen Jahren eine langjährige Liebe in die Brüche ging und sie auch arbeitsbedingt einen Burnout erlitt, ist stark etwas ins Rollen gekommen. „Sehr viel Selbstfindung“, sagt Sonja und lächelt: „Leidensdruck kann eine große Kraftquelle sein.“ Nachdem sie sich aus einer Depression herausgeschafft hatte und zu neuen Ufern aufmachte, gelangte sie unverhofft zum Zäsurmoment: „Ich hatte mich in einer Dating-Show beworben, und als die anriefen und sagten, sie haben eine passende Partnerin gefunden, kamen mir plötzlich totale Skrupel“, erinnert sie sich. Schließlich ist es wie aus ihr herausgeplatzt: „Dass ich mich als Frau identifiziere und als Frau leben will und werde.“

    Seither geht es Schlag auf Schlag auf dem Weg ihrer Transition, ihrer Geschlechtsangleichung. Am 5. Juli 2020 hat sie sich ihren neuen Namen gegeben, am 7. Juli hat sie sich vor ihrer Rollenspieler-Gruppe geoutet, am 8. Juli ist sie erstmals als Sonja einkaufen gegangen. Sie trug ein Kleid, einen BH mit Brustprothesen, die Haare offen. Wie sich das anfühlte? „Großartig! 100 Prozent Freiheit.“ Wenn der Ballast abfällt und man an Höhe gewinnt.

    „Vorher habe ich existiert, seit dem Coming-out lebe ich“, sagt Sonja und muss in solchen Momenten auch mal innehalten. Sie schluchzt kurz. „Was ich seitdem geheult habe, viel aus Erleichterung, auch wegen der Hormone.“ Aber auch Schmerzhaftes gehört dazu. Zwar war für sie fast das Schlimmste bei ihrer geschlechtsangleichenden Operation vor einem Jahr das lange Warten darauf. Aber es ist ein massiver Eingriff. Glied und Hoden werden entfernt, die Penishaut in einen Raum zwischen Harnblase und Enddarm eingestülpt zu einer Neovagina und aus der Eichel eine Klitoris geformt.

    Und damit war es das noch lange nicht. Nach der OP kam es zu Komplikationen, also waren weitere nötig, auch jüngst wieder. Bei der Operation zum Brustaufbau wurde ein Expander eingesetzt, der das Gewebe nach und nach weitet, bevor Implantate eingesetzt werden. „Wenn ich alle OPs hinter mir habe, sind es sieben oder acht“, sagt Sonja. Zudem muss sie mindestens ein Jahr lang viermal täglich ihre Neovagina dehnen mit einem so genannten Bougier-Set.

    Sonja Götz lehnt sich auf der kuschligen Couch zurück und sinniert: Wie sehr sich nicht nur ihr Körper verändert hat. „Ich fühle anders, ich verhalte mich anders, ich lebe anders.“ Früher sei sie eher still gewesen. „Jetzt mache ich meinen Mund auf.“ Wie neulich bei der Mahnwache für die Opfer queerfeindlicher Übergriffe. Da hielt sie als Aktivistin beim queeren Verein Vielbunt, die sie mittlerweile auch ist, die zentrale Rede. Voller Vehemenz und Volumen sprach sie. Über Hasskriminalität, Morde, Suizide. Und rief, was sie stets betont: „Wir müssen uns Verbündete suchen.“ Mit einer Stimme, die immer femininer und lauter wird. Auch ohne Mikrofon-Verstärkung.

     

  • Der Welt-Buchstabenmacher

    Der Welt-Buchstabenmacher

    Hermann Zapf hat als Typograf unzählige Schriften entworfen für Print bis Computer – Eine Annäherung von A bis Z

    Alphabet. Hermann Zapf ist umgeben davon. Im Haus des Mannes, der weltweit als einer der bedeutendsten und einflussreichsten Typografen und Buchgestalter des 20. Jahrhunderts gilt, sind die Buchstaben omnipräsent. Im Arbeitszimmer auf Buchrücken oder hinter Glas. Im Wohnzimmer als Schriftblätter gerahmt. Dort leuchtet bunt ein verschlungenes ABC von der Wand: Das freche B stubst ein ahnungsloses A an, über N, P und Q legt sich ein ausladendes O. Buchstabenfamilie. Auch im Garten tummeln sie sich auf einer Metallplastik: „Hora fugit, carpe diem.“ Die Zeit vergeht, nutze den Tag.

    Buch. Die Urzelle seines Schaffens. Nicht nur, weil er 1935 anfing, sich nach Lehrbüchern von Rudolf Koch und Edward Johnston mit dem Schriftschreiben zu befassen. „Ein Buch ist ein ästhetisches Stück, etwas Haptisches, was Sie anfassen können“, sagt Hermann Zapf, während seine 95 Jahre alten Hände lebhaft durch die Luft fahren und die Worte untermalen. „Ein Haushalt, der keine Bücher hat, ist eine leere Welt, da ist keine Wärme drin.“

    Computer. Der Buchgestalter verteufelt ihn nicht. Im Gegenteil: Er arbeitet zwar nicht mit, aber für ihn. Zig Alphabete aus seiner Hand sind heute fester Bestandteil in der Schriftauswahlliste am heimischen PC. Die Palatino, zum Beispiel. „Der Bildschirm wird dominieren – das tut er ja schon, aber dass er das Buch total verdrängt, glaube ich nicht“, sagt Hermann Zapf. Der Computer sei für vieles nicht mehr zu entbehren, aber er stelle eine abstrakte Welt dar. Sein Ton bekommt einen beseelten Klang: „Aber von der Ästhetik her sagt mir ein Gedicht am Bildschirm lange nicht so viel, als wenn ich das schön dargestellt auf Papier in einem Buch finde. Ich bin überzeugt, dass selbst in hundert Jahren Leute noch gern ein schönes Buch anschauen.“

    Darmstadt. Hier lebt er seit 1972. Damals holte ihn die Prinzessin an den Woog, um eine Privatpresse aufzubauen. Doch das Projekt ist gestorben, bevor es zu leben begann. Finanzprobleme. Der Typograf blieb. „Ich hatte mehrfach die Möglichkeit, in die USA zu gehen, aber wir haben´s ja hier so schön“, befindet er. „Der Vorteil an Darmstadt ist, dass die Proportionen menschlich, sympathisch, nicht so übermäßig und aufgeblasen sind.“ Wie eine Schrift namens Darmstadt aussehen müsste? Schwierig. „Eine Schrift sollte ja etwas Bestimmtes ausdrücken, und Darmstadt sagt mir zu wenig für Buchstaben.“

    Entwerfer. Als solchen sieht er sich selbst. Ganz klar. Alte Schule.

    F. Ein kniffliger Kandidat. Hermann Zapf spricht aus dem Nähkästchen: „Früher war das immer der schwierigste Buchstabe, das kleine F kursiv – daran haben sich alle den Kopf zerbrochen.“ Und ihn anschließend verkürzen müssen, damit er auf die Schriftsetzmaschinen-Matrize passte.

    Gudrun Zapf von Hesse. Seit mehr als sechzig Jahren seine Frau. Und ebenfalls eine Schrift- und Buchgestalterin von Weltrang.

    Hand. Sie hält einen Bleistift und zeichnet schwungvoll ein wohl geformtes K. Dann wandert sie gewissenhaft über das Papier und produziert ein Millimeter kleine Buchstaben. Gleichmäßig und ruhig, wie ein automatisiertes Schreibwerkzeug. Viele seiner Kollegen entwerfen Schriften am Computer. Zapf nicht. „Ich habe noch eine absolute Kontrolle über meine Hand, warum soll ich da ´ne Maschine nehmen?“, fragt er. „Das ist genau wie bei einem Klavierspieler: Der kann sich auch eine CD anhören, aber dann ist der Spaß weg.“ Die Hand zeichnet weiter, ohne Zittern – nicht mal der Puls macht sich bemerkbar. Hermann Zapf lacht: „Ich trinke keinen Kaffee, vielleicht liegt´s daran.“

    Inspiration. Die spielt im Schaffen von Hermann Zapf weniger eine Rolle. Die Arbeit basiert vielmehr auf Vorgaben von Firmen, die neue Möglichkeiten ausprobieren wollen. „Der technische Fortschritt macht die Geschichte interessant, weil man immer wieder Neuland betritt“, betont er. „Neue Möglichkeiten versuchen und in eine Schrift einbauen: Das ist es, was mich interessiert.“

    Jeans. Hermann Zapf trägt keine.

    Kunst. Kann, sollte oder muss Schrift das sein? Kann – ja, sollte – nicht, muss – auf keinen Fall. „Sie können mit Schriften richtig rumspielen, dagegen ist nichts zu sagen“, befindet Zapf. Einerseits. Aber: Schrift als reiner Selbstzweck ist für ihn nicht erstrebenswert. „Prinzipiell ist das ein Produkt, das einen Gebrauchszweck hat.“ Punkt.

    Lesbarkeit. Darum geht es. Bevor eine Zapf-Schrift auf den Markt kommt, wird sie umfangreich durchgetestet. An Erwachsenen, an Kindern, unter verschiedenen Lichteinflüssen. „Die Lesbarkeit haben wir früher nicht so beachtet“, berichtet Zapf. „Aber da haben die Leute auch langsamer gelesen. Wir haben ja heute nicht mehr so die Ruhe wie früher, die Muße ist fort.“ Was er allein alles an Zeitschriften zu lesen habe… „Sie können das alles nur durchblättern, wie wollen Sie das denn sonst bewältigen?“ Er hat einen Weg gefunden. Seit er einen amerikanischen Schnelllesekurs mitgemacht hat, packt er Zeile um Zeile zwischen kleinen und Zeigefinger und fährt den Text von oben nach unten ab. Fokussierungsschiff in der Informationsflut.

    Mitte des Alphabets. Durchatmen. Hermann Zapf sitzt leger im Sessel und lässt den Blick durch das große Fenster in den Garten schweifen. „Ich kann hier immer so schön ins Grüne gucken“, sagt er und lächelt sein aufgewecktes Lächeln.

    Natur. Buchstaben wachsen dort nicht. Vielleicht zieht es ihn dort deshalb ständig hin. Vielleicht.

    Optima. Eine Druckschrift. Zapf schuf sie zwischen 1950 und 1958. Serifenlos, schnörkellos, schlicht – optimal geeignet für Massenmedien, wie er feststellt. Sie gehört zu seinen Lieblingsschriften.

    Pension. Der Schriftentwerfer ist schon lange im Ruhestand, doch zum Stillstand wird es Zeit seines Lebens wohl kaum kommen. „Schriften, die ich früher gemacht habe, müssen inzwischen noch ergänzt werden, zum Beispiel für Microsoft die Palatino.“ Das müsse er zu Ende bringen, weil sich jemand anderes da gar nicht reindenken kann. Nicht nur deshalb: „Das macht mir Spaß.“

    Querdenker. Ist er nicht. Hermann Zapf ist Pragmatiker mit einem ausgeprägten und erfahrenen Sinn für klassische Ästhetik. Über den experimentierfreudigen Typografen-Nachwuchs, der Buchstaben verstümmelt, kann der ehemalige Lehrbeauftragte daher manchmal nur den Kopf schütteln: „Wenn man damit sein Brot verdienen will, kann man nicht jeden Tag so was Verrücktes machen. Die sollen lieber die Grundlagen lernen.“

    Rosenhöhe. Sein Lieblingsort in Darmstadt. „Für mich ist die Rosenhöhe die Zentrale. Und da ich direkt nebendran wohne, ist sie quasi ein Stück geliehener Garten, den ich nicht bewirtschaften brauche.“ Nicht alles in Darmstadt findet seinen Beifall, betont Zapf. „Aber was die Rosenhöhe angeht, das ist ein großes Verdienst von Darmstadt. Wie die Gärtner das in Schuss halten, das ist schon enorm. Die ist so schön, ich brauche gar nichts anderes.“

    Schriften. Fast 200 hat er entworfen. Die erste Drucktype entstand 1938 in Frankfurt, eine Fraktur namens Gilgengart. Es folgten unter anderem Palatino und Michelangelo, Melior, Saphir, Linofilm Venture, Zapf Rennaissance Antiqua, ITC Zapf Chancery, Zapfino oder Zapf Dingbats. Produktiv war der emsige Schriftgestalter aber nicht nur auf dem Gebiet des lateinischen Alphabets: Er entwarf arabische und griechische Druckschriften, arbeitete an der Vereinheitlichung der Schrift in Nigeria oder überarbeitete alte Schriftzeichen neu für die Cherokee-Indianer. Seine Alphabete finden sich heute in Büchern und Zeitschriften auf der ganzen Welt, im Fernsehen, auf Briefmarken in vielen Ländern und überall dort, wo elektronische Textverarbeitung mit Laserdruckern angewendet wird.

    Typograf: Gestalter mit Druckschriften.

    Urheberrecht. In Hermann Zapfs Gesicht breitet sich Enttäuschung aus, wenn dieses Stichwort fällt. „Meine Schriften sind die meist kopierten in der ganzen Welt“, bedauert er. „Vor allem die Amerikaner sind dafür bekannt, dass sie solche Dinge nicht respektieren.“ Für ihn eine traurige Geschichte. Einklagen? Unmöglich. „Ich kann heute keinen jahrelangen Prozess mehr führen – und finanziell schon gar nicht.“

    Vita. Vital gefüllt im Falle von Hermann Zapf: Am 8. November 1918 in Nürnberg geboren, übersiedelte er 1938 nach Frankfurt, wo er für die Druck- und Notenwerkstatt „Haus zum Fürsteneck“ arbeitete und später als künstlerischer Leiter in der Schriftgießerei D. Stempel AG. Später lehrte er: 1948-50 an der Werkkunstschule Offenbach, 1960 am Carnegie Institute of Technology in Pittsburgh/Pennsylvania, ab 1972 an der Technischen Hochschule Darmstadt und von 1977 bis 1987 als Professor für „Typographic Computer Programs“ am Rochester Institute of Technology im Staat New York. 1974 erhielt er den Gutenberg-Preis der Stadt Mainz und 1985 die Auszeichnung Honorary Designer for Idustry der Royal Society of Arts in London – zwei Auszeichnungen von vielen.

    Wandel. Vom Bleisatz zum Fotosatz zum digitalen Satz. Zapf hat die druckgrafische Entwicklung von der Gutenberg-Ära zum Computerzeitalter nicht mitgemacht – er hat sie mitbestimmt. Er war einer der ersten, der das historische Erbe jahrhundertealter europäischer Schriftkunst mit den technischen Möglichkeiten computergestützter Typografie zu verbinden wusste. Bereits seit den sechziger Jahren hat er sich – damals innovativ und mutig – als Gestalter für typografische Computerprogramme engagiert. Allerdings nicht, ohne sich von den Wurzeln zu entfernen. Bis heute zeichnet er ausschließlich mit Pinsel und Stift auf Papier.

    X/Y ungelöst. Stichwort Geheimschrift. Seine erste Arbeit. Entworfen hat er sie als kleiner Junge zusammen mit seinem Bruder, damit die Eltern nicht mitbekommen, was in den Köpfen ihrer Sprösslinge vor sich geht. Wie sie funktionierte, lässt Zapf – ein verschmitztes Grinsen im Gesicht – im Unklaren. „Hat etwas mit deformierten Buchstaben zu tun“, verrät er nur. „Das ergibt Worte, die kann kein Mensch lesen.“ Spitzbübische Jugendsünde eines an Funktionalität orientierten Schriftentwerfers.

    Zapf. Hermann. Unter diesem Stichwort listet die Suchmaschine Google fast 900000 Internet-Einträge auf. Daneben ist der renommierte Schriftentwerfer in unzähligen Lexika zu finden. Und im Darmstädter Telefonbuch. Ganz unspektakulär und normal.

  • Überzeugungstäter mit Dauerkarte

    Überzeugungstäter mit Dauerkarte

    Der Journalist Hans Leyendecker ist ein gefürchteter Rechercheur – und glühender Borussia-Fan ist er auch

    Er ist ein kleiner Mann, der still an seinem Schreibtisch sitzt. Sein Kopf ist leicht nach oben gerichtet, während er auf die beiden Monitore blickt und sich aufmerksam durch Nachrichten und Mails klickt. Links von ihm liegt ein aufgeschlagener Aktenordner, rechts von ihm steht ein Papierkorb, halbvoll mit ausgelesenen Blättern. „Der UEFA-Skandal“ steht auf dem obersten.

    Ein Kollege schaut durch die weit offene Tür: „Wo essen Sie denn heute?“, fragt er. „Gar nicht, ich esse gar nichts“, antwortet Hans Leyendecker und lächelt, wie amüsiert über sich selbst. Es ist schon lange dunkel draußen, doch zu Abend gegessen wird nicht. Die geschnittenen Fruchtstücke, die in einem Plastikbecher auf dem Tisch parat stehen, sind nicht angerührt. Er wendet sich wieder der Arbeit zu.

    Eine konzentrierte Ruhe erfüllt das überraschend kleine Büro im 25. Stock des erschlagend großen Hochhauses der „Süddeutschen Zeitung“ in München. Nur eins irritiert, und das enorm: Die Flut an „Borussia Dortmund“-Devotionalien, deren grelles Gelb-Schwarz den kleinen Raum so omnipräsent belagert, dass man die BVB-Fanrufe fast hören kann. An der Wand ein Banner, auf dem Tisch ein Männchen, darüber ein Mannschaftsfoto, eine Dose, die Tastaturunterlage – alles ruft in gelb-schwarz: „Booooorussia!“

    Sieht so das Büro eines der profiliertesten politischen Journalisten des Landes aus? Eines Mannes, dessen beharrliche Recherchen schon Anfang der Achtziger, damals noch beim Spiegel, die Flick-Affäre ans Tageslicht brachten und jüngst den NSU-Skandal. Und der etliche weitere Machenschaften beleuchtete. Ist diese schrille Borussen-Kulisse die Arbeitsumgebung dieses ernsthaften Mahners der Vierten Gewalt? Die Antwort lautet: Ja. Es ist das Büro eines Überzeugungstäters, hier arbeitet ein Fakten- und Fußballfan.

    Mit seiner Haltung eckt Leyendecker auch an. Als er vor einem Jahr bei einem Journalisten-Kongress in Berlin sprach und dabei alles andere als Bauchpinselei seiner Branche betrieb, war nicht jeder erfreut. Seine Finger rieben während der Rede immer wieder über die Stirn, als helfe das beim Herausbefördern der Gedanken: „Die wirklich große Gefahr für den Journalismus geht vom Journalismus aus.“ Mut und Geistlosigkeit seiner Zunft beklagte er und eine Verflachung im schnelllebigen Internetzeitalter. Qualität komme nun mal von Qual. „Der Leyendecker“, raunte einer nach der Rede, „ist doch von gestern.“

    Der Leyendecker lehnt sich in seiner Büroparzelle auf dem Stuhl zurück, verschränkt die Arme, fasst sich mit einer Hand ans Kinn und sagt: „Das stimmt, ja.“ Er spricht ruhig, fast sanft. „Mit 63 Jahren und acht Enkeln sind Sie aus einer anderen Zeit.“ Er twittert nicht, er bloggt nicht, er chattet nicht. „Will ich nicht“, sagt er knapp. „Die Faszination der heutigen Eilmeldungen leuchtet mir nicht so ein.“ Wer Tore schießen will, muss sich reinknien.
    Das Telefon klingelt. „Entschuldigung“, sagt er höflich und nimmt den Hörer ab. Ein Kollege ist dran. „Auf der Zwei kommt was über rumänische CIA-Gefängnisse“, antwortet Leyendecker auf dessen Frage. Viel mehr könne er dazu gerade auch nicht sagen. Im nächsten Moment legt er wieder auf. Dann geht auf dem Handy eine SMS ein, auf die er – „Entschuldigung, bitte“ – umgehend reagiert.

    Er ist ein Printjournalist alter Prägung, aber die neuen Medien lehnt er nicht grundsätzlich ab. „Es gibt viele Vorteile.“ Die Kooperation mit Kollegen sei besser geworden, auch die Beschaffung von Informationen, jederzeit könne er online die „New York Times“ lesen. Nie zuvor sei so viel Information verfügbar, aber auch nie zuvor ein Orientierung bietender Journalismus wichtiger gewesen als Wegweiser im Wirrwarr. „Ich glaube, dass die Leute eine Sehnsucht nach Aufklärung haben.“

    Und Leyendecker verschafft sie ihnen wie ein gründlicher Beamter. Mit seiner gedeckten Kleidung, ein kleinkarierter Hemdkragen lugt aus einem V-Ausschnitt, die randlose Brille hängt über einem Schnäuzer, könnte er als Behördenleiter durchgehen. Und so was in der Art ist der Chef des SZ-Investigativ-Ressorts auch. Da genügt ein Blick entlang der Regale voller Aktenordner: BND, RAF, Stasi, Telekom. Allein das NSU-Material füllt bislang 700 Stück. „Ich bin ein Leitzordner-Journalist“, hat er mal in einem Interview gesagt. Noch weniger glamourös klingt es, wenn er seine Arbeitsweise beschreibt: „Ich versuche, möglichst viel Material zu bekommen und mit Leuten zu reden.“

    Das geht um 6 Uhr morgens los und oft bis 23 Uhr. An zwei Tagen die Woche ist er bei der SZ in München, ansonsten arbeitet der gebürtige Rheinländer Zuhause in Leichlingen im Bergischen Land. „Haltung ist nicht alles, Fleiß ist ein ganz wichtiger Faktor“, betont Leyendecker, der studierte Historiker, für den gründliches Quellenstudium das tägliche Brot ist. Doch er arbeitet weniger als früher, das Wochenende nimmt er sich mittlerweile frei und geht oft zur Borussia. Er hat eine Dauerkarte, seine Frau auch. Seit 42 Jahren sind sie verheiratet und haben fünf erwachsene Kinder.

    Als Journalist ist er gefürchtet und verehrt. In der Redaktion kann man ihn als Mann erleben, der auf zurückhaltende Art zugewandt ist. „Er beendet Gespräche, ohne ‚Tschüss‘ zu sagen“, erzählt ein SZ-Kollege. Aber das sei nicht böse gemeint, sondern eine Marotte. „Er ist ein eher bescheidener, ruhiger Mensch, macht nicht viel Aufhebens um seine Person.“ Aber in der Sache meinungsstark, temperamentvoll und unnachgiebig. „Er ist ein Vorbild.“

    Nicht für alle. Als er voriges Jahr den renommierten Henry-Nannen-Journalistenpreis ablehnte, weil Kollegen der „Bild“ ihn auch bekam, wurde ihm Verbohrtheit vorgeworfen. Das Boulevard-Blatt, so hieß es, sei heutzutage eine ernstzunehmende Zeitung. Für Hans Leyendecker nicht. Er wahrt Distanz. Nicht nur in dem Fall. „Sich nicht gemein machen, das ist schon ein Charakterzug von mir“, sagt er. „Außer mit Borussia Dortmund.“

    Er wendet sich wieder still dem Monitor zu und liest. „Klick, klick“, macht die Computermaus. Das Pad, über das sie geführt wird, ist gelb-schwarz.