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- Raritäten der Vinylkultur
Raritäten der Vinylkultur
Frauen sind nach wie vor eine Ausnahme in Plattenläden oder an DJ- und Mischpulten. Nur zehn Prozent der Plattenkäufe gehen auf ihr Konto. Woran liegt das? Eine Reise durch die Republik zu Vinyl-Liebhaberinnen und aufschlussreichen Erkenntnissen
Es hat was von einem Aquarium. Wer in der Nürnberger Färberstraße 2 durch die große Schaufensterfront blickt, sieht vor allem eins: Männer, die durch Platten blättern. Gut ein Dutzend sind es an diesem Samstagnachmittag im „Monoton“. Dicht gedrängt stehen sie vor Reihen mit Kästen voller Vinyl und stöbern durch das Angebot, fingern sich durch Heavy oder Pop, Jazz oder Rock, progressive Afro-Neuheiten oder ewige Blues-Klassiker. Während ein Kunde mit einem Stapel neuer Errungenschaften zur Kasse geht, hört sich ein Typ mit langem Haar direkt vorne am Schaufenster in Neuheiten rein. Es wirkt wie eine Performance von Plattenliebhabern. Und als Besonderheit gibt es hier Raritäten, die kaum ein Plattenladen zu bieten hat.
Kristin Soglondéy läuft mit einem Schwung Vinyl zielstrebig an den Männern vorbei. Ihre langen Rastazöpfe sind zusammengebunden, ein paar haben sich gelöst und baumeln munter umher, während die junge Frau durch den Laden stiefelt. Ein Stammkunde stoppt sie und fragt nach einer Heavy-Empfehlung. Sie verweist erstmal auf die neue Obelyskkh. „Das ist eigentlich DIE Doom-Stoner-Band gerade“. Dann wird’s spezieller. „Wie ernsthaft ist denn dein Interesse?“, hakt sie nach und kommt mit einem persönlichen Tipp: Om. „Das ist meine Lieblingsband in dem Bereich, weil’s ein bisschen experimenteller ist.“ Der Kunde wird sich die Psychedelic-Stonerrocker gleich anhören und dann begeistert mitnehmen. „Super geil“, bestätigt er beim Bezahlen.
Die Begegnung hallt nach. Und das nicht nur wegen der Musikexpertise im „Monoton“, das ob seines vielfältigen Angebots an Vinyl wie auch Plattenspielern und Verstärkern eigentlich „Polyton“ heißen müsste. In dem seit zwanzig Jahren bestehenden Plattenladen verkaufen seit vielen Jahren beständig auch Frauen Vinyl. Das klingt wie eine Erkenntnis aus gestrigen Zeiten, doch sie entspringt einer gegenwärtigen Realität der Unausgewogenheit. Denn was hier gelebte Normalität ist, stellt in den meisten Plattenläden nach wie vor eine bemerkenswerte Seltenheit dar. Das kann man landauf, landab beobachten, ob in Kiel oder Bremen, Berlin oder Hannover, Frankfurt oder München: Plattenläden sind Männerdomänen, Frauen trifft man dort kaum an – und das sowohl hinter als auch vor der Verkaufstheke. Woran liegt das?
Nürnberg: Generation Computer entdeckt die Vinyl-Liebe
„Monoton“-Inhaber Tobias Leitmann findet darauf auch nicht einfach eine Antwort, als man nach Ladenschluss im kleinen Cafébereich an der Theke zusammensitzt auf ein Interview. Es ist nicht so, dass er gezielt Frauen eingestellt hätte. „Das hat sich immer so ergeben“, sagt der 53-Jährige. Anfangs hat er sein Geschäft allein betrieben und wollte irgendwann jemanden dazunehmen. Da empfahl ein Freund seine Freundin, die bereits in einem Plattenladen in Bamberg gearbeitet hat. „Es ging um die Eignung und dass ich jemand habe, der mir helfen kann.“ Jenseits alles Fachlichen sei es für ihn auch vom Menschlichen her ein Punkt gewesen: „Ich wollte in einem Team arbeiten.“ Und Frauen brächten da andere Vorlieben ein.
„Skills“, wirft ihm gegenüber Dominika Osowski ein, die inzwischen zu der Runde gestoßen ist. Die 27-Jährige arbeitet seit drei Jahren im „Monoton“. Auf die Frage, wie sie dazu gekommen ist, noch dazu in einem recht jungen Alter, stellt sie fest: „Mir ist aufgefallen, dass Tobi schon einige Frauen als Mitarbeiterinnen hatte.“ Sie habe nie das Gefühl gehabt, sich beweisen zu müssen, weil sie eine Frau ist. Ähnlich Kollegin Kristin, die seit anderthalb Jahren zum Team gehört. Sie kannte den Chef zudem über die Musikzentrale Nürnberg, einem Verein zur Förderung der regionalen Musikszene. Doch jenseits solcher Brücken, die den Zugang für die beiden jungen Frauen zum Plattenladen erleichtert haben mögen, nennen sie als ausschlaggebend zuvorderst dies: Begeisterung und Interesse für Musik und Schallplatten.
Das ist umso bemerkenswerter, als die beiden 27-Jährigen einer Generation angehören, in deren Aufwachsen Vinyl keine Rolle gespielt hat. „Ich war schon sehr früh sehr musikbegeistert“, erzählt Soglondéy. Als sie dann mit 15, 16 Jahren viel Musik aus den Fifties und Sixties gehört habe, habe Vinyl dazugehört. „Meine ersten Platten habe ich auf dem Flohmarkt gekauft, ohne einen Plattenspieler zu haben.“ Sie sei damit outstanding gewesen in ihrer Altersgruppe – „Generation Computer“, wie Osowski neben ihr sie nennt. „Ich hab‘ mir immer wie verrückt Musik runtergeladen und auf den MP3-Player gezogen.“ Bis ihr ein Freund eine Platte von Tame Impala geschenkt und sie Feuer gefangen hat. „Ich fand das schön, weil ich nur das Digitale gewöhnt war, diese ganzen Cover, ich stehe auch total auf Kunst und Gestaltung.“
Eine Riesen-Sammlung haben die beiden bis heute nicht. Osowski: „Ich kaufe mir nur Platten, die ich total gut finde.“ Geschätzte 100 hat sie zu Hause. „Bei mir sind’s mittlerweile fast 200“, ergänzt Soglondéy. Und dass das auch eine Frage begrenzten Budgets ist. Dass ihre Musikkenntnisse dennoch reichhaltig sind, wird bei einem Besuch im „Monoton“ binnen Minuten deutlich. Trotzdem kommt es nach wie vor zu Kopfschüttel-Szenen, wie dieser. Kunde: Ist der Chef da? Soglondéy: Der hat zu tun. Kunde: Okay, dann frage ich Ihren Kollegen. „Sowas kommt ab zu mal vor“, befindet die junge Frau später im Gespräch und lächelt etwas schief. Das sei eben das Vorurteil, dass sie sich nicht so gut auskennen würden. „Manchmal finde ich das ein bisschen frustrierend.“ Auch, dass so wenig Frauen Platten kaufen und sie diese Leidenschaft vor allem mit Männern teilt.
Beim Streaming ausgewogen, bei Vinyl ein Gender-Gap
Dass auch Frauen Musik mögen, kommt einer Binsenweisheit gleich. Und lässt sich in Zahlen greifen. Der Jahresbericht 2021 des Bundesverbands Musikindustrie weist bei den männlichen Musikkaufenden einen Anteil von 32 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, bei Frauen sind es 25 Prozent. Beim Blick auf einzelne Tonträger und Formate diversifiziert sich das Bild: Bei kostenpflichtig Streamenden ist die Verteilung weiblich zu männlich noch ausgewogen: 48 zu 52 Prozent. Bei Download- und CD-Verkäufen liegt der Anteil der Frauen bei einem Drittel zu zwei Dritteln Männern. Bei Vinyl aber zeigt sich ein enormer Unterschied: Schallplatten kaufen zu 90 Prozent Männer und nur 10 Prozent Frauen. Warum besteht vor allem hier ein solcher Gender-Gap?
Ein Mann, der sich seit Jahren auch mit soziokulturellen Fragen in Musikkosmen beschäftigt, ist Klaus Walter, DJ, Musikjournalist und Radiomoderator unter anderem bei dem feinen Internet-Musikradiosender byte.fm. „Ich fürchte, dass dieser Aspekt des Sammelns und der Kult um Vinyl schon eine rein männliche Chose ist“, sagt der 67 Jahre alte Frankfurter, der selbst eine kapitale, raumfüllende Plattensammlung angehäuft hat. „Plattenläden sind auch eine Arena, wo man Kompetenzen und Platten miteinander vergleicht.“ Da hätten Frauen nicht so einen Sinn für. Die Folge: „Plattenverkäufer sind fast immer männlich. Es ist total auffällig, wenn da mal eine Frau hinterm Tresen steht und es gar wagt, männlichen Kunden was zu erzählen.“
Hamburg: DJ-Frauen mit Soulsingle-Sammelmanie
Eine Wohnung in Hamburg an einem Abend unter der Woche. Seite an Seite sitzen vier Frauen auf einer Wohnzimmercouch zusammen vor einem Bildschirm zum Video-Interview. Sie bilden seit 2010 das weibliche DJ-Kollektiv 45 Degrees und haben sich Soul, 60ties R’n’B und Disco auf Singles in Original-Pressung verschrieben. Seit Jahren bespielen sie Tanzflächen in Hamburg und laden regelmäßig zum Soul Club ins Nachtasyl, der Bar des Thalia-Theaters über den Dächern der Stadt. Doch auch jenseits ihres DJ-Seins kommt ordentlich Musik-Expertise zusammen, als sich die Vier der Reihe nach vorstellen: Kerstin Holzwarth, DJ Name Holly, 56 Jahre alt und als Grafik-Designerin gefragte Gestalterin von Plattencovern, etwa für Tapete Records. Miriam Dames aka MS Phyllis, 39 Jahre alt und als Soziologin Senior Projektmanagerin einer privaten Hochschule. Simone Schneider, 48 Jahre, Betreiberin des Hamburger Plattenladens „Pure Soul Records“. Inger Schwarz, 52 Jahre, unter anderem Mitarbeiterin bei „Pure Soul“.
Im Gespräch mit ihnen verflüchtigt sich der Eindruck, dass Plattensammeln ein rein männliches Phänomen wäre. Der Zugang war bei allen früh gelegt, aus dem Aufwachsen heraus als Teil einer Noch-Schallplattengeneration. „In meiner Kindheit gab’s halt nur Vinyl“, stellt Holzwarth fest, erste selbst gekaufte Platte „Der Stern von Mykonos“ von Katja Ebstein. Sorgt für Erheiterung in der Runde. „Vinyl war einfach gängiger damals“, sagt Schneider, deren erster Plattenkauf die „Start Today“ der US-Hardcoreband Gorilla Biscuits war. „Ich habe Mitte der 70er angefangen, Vinyl zu kaufen“, wirft Schwarz ein, die damals mit dem blauen Beatles-Album einstieg. Einzig Dames ist als jüngste im Bunde in der CD-Zeit der Neunziger in Ostdeutschland groß geworden. „Aber mein Vater hat Platten gesammelt.“ Und als sie ab Teenagertagen über Ska, Reggae und Punk schließlich zu Soul kam, ging es bei ihr mit der Sammelmanie los.
„Eine bewusste Entscheidung für Vinyl war, als ich angefangen habe, Soul aufzulegen“, fasst Holzwarth die Wurzeln ihrer Sammelleidenschaft. In der Rare-Soul-Szene werde sehr viel Wert auf Original-Scheiben gelegt. „Und ich finde dieses Format toll – klein, kompakt, ein Song drauf.“ Bei Schwarz scheint es regelrecht genetisch bedingt zu sein: „Seitdem ich kriechen kann, habe ich gesammelt.“ Aufkleber, Getränkedosen, alles Mögliche. Da hätten sich Platten angeboten. „Ich mochte schon immer sehr gerne Musik und fand Platten immer schön.“ Das Artwork, das griffige Format – „etwas, was man besitzen kann, sortieren“. Schneider beschreibt den Reiz daran so: „Wenn ich ein Stück höre, das mir gefällt, dann möchte ich das haben. Mir reicht es nicht, das nur zu hören – das muss in meinen Besitz.“
Doch mit einer Selbstbezeichnung als Sammlerin tun sich die Soulsingle-Sisters teils schwer und machen Unterschiede zu Männern fest. Dames muss da an einen Bekannten denken, der alles von einem Label gesammelt habe, auch wenn er manches gar nicht gut fand. „So eine Art von Sammeln machen wir nicht.“ Sie kauften nur Platten, die sie mögen und hören wollen. Bei ihr sind es allein an Singles mittlerweile 3000. „Und ich bin eigentlich keine Sammlerin“, fügt sie an, was in dem Kontext nach ironischer Untertreibung klingt. „Ich bin keine bewusste Sammlerin“, meint aber auch Holzwarth. „Wichtig ist uns, dass wir die Originalpressungen, die wir sammeln, auch auflegen und nicht nur zuhause ins Regal stellen“, betont Schneider. Schwarz bringt es schließlich so auf den Punkt: „Der Unterschied zu Männern ist vielleicht gar nicht so groß. Nur Frauen sagen nicht, dass sie Sammlerinnen sind.“
Nun ist es aber nochmal einen Schritt mehr zum Plattenauflegen. Zwar sind Frauen als DJs inzwischen verbreiteter als in Plattenläden, aber eine Männerdomäne ist auch das nach wie vor. „Früh Unterstützung bekommen und früh Vorbilder“, so erklärt sich MS Phyllis, wie sich bei ihr die Traute zum Auflegen ergab. Die ersten Male seien als Teenie in einem punkigen Jugendclub gewesen. „Das war ein Umfeld mit Freunden, da konnte nichts schief gehen.“ Auch bei den anderen geschah der Einstieg in einem vertrauteren, niedrigschwelligen Setting, unter Bekannten, auf Partys, in Bars und Kneipen, an eher subkulturellen Orten. Im Laufe der Zeit ist das dann immer professioneller geworden.
Dass auch in der DJ-Welt aber noch lange keine Gleichstellung Einzug gehalten hat, bekommen sie immer wieder zu spüren. Schneider erzählt: „Öfters gab es die Situation, dass ein Typ kommt und am Mischpult was verstellt – ohne zu fragen.“ Dames ergänzt: „Gerade, wenn man als weiblicher DJ noch jung ist, kriegt man schon oft die ganze Latte. Aber mit zunehmendem Alter und Selbstvertrauen trauen die sich das nicht mehr.“ Trotzdem gebe es gerade in ihrem spezialisierten Single-Bereich nach wie vor nur sehr wenige Frauen. „Höherer Nerd-Faktor durch das Sammeln von Original-Pressungen – es klafft so eine Lücke.“
Eine Lücke, die die Gründung ihres weiblichen DJ-Kollektivs befördert hat. „Bei Veranstaltungen, die von den Männern hier in Hamburg veranstaltet wurden, wurde man nicht unbedingt gefragt, ob man mitmachen will“, erklärt Dames. „Ich hatte das Gefühl, dass die Männer schon genug Raum haben“, ergänzt Holzwarth. Und sie finde auch den feministischen Aspekt dahinter klasse: „Zu zeigen, hier sind wir, und wir können das auch. Auch als Vorbildfunktion, dass sich Mädchen und junge Frauen animiert fühlen – einfach machen und sich den Raum nehmen“. Und nicht zuletzt gehe es auch darum, so Schneider, „sich bewusst von männlichen Veranstaltern abzuheben, die im Lineup höchstens eine oder sogar keine Frau hatten.“ Frau tut, was man kann.Frankfurt: Im Elektronikbereich seit 30 Jahren als Frau unterwegs
Ein Studio in einem Hinterhof in Frankfurt. Antje-Maya Hirsch stellt ihre pinke Umhängetasche auf einen Stuhl, holt einen Stapel Platten raus, stellt sie hochkant auf das Board neben sich. Ganz vorne steht Jean Michel Jarres Oxigene-Album von 1976 wie eine Gallionsfigur der kleinen Plattenauswahl. Doch die kommt erst später zum Einsatz. Flott blättert sich die DJ zu dem 1994er Album des Ambient-Projekts Reagenz, holt die Scheibe raus und legt sie auf den linken der zwei Technics-Player vor sich. Als sich die Nadel auf das schwarze Vinyl senkt, knistert es markant los, sehr markant. Es knistert so omnipräsent, dass es wie ein bewusstes Soundelement wirkt in diesem pulsierenden Elektroniktrack. Jedoch: „In dem Fall ist es viel bespieltes Vinyl“, merkt Hirsch an und fährt mit einer Bürste darüber. „Diese Platten haben ja auch schon ein bisschen was erlebt.“
Seit gut 30 Jahren ist die 59 Jahre alte Wahl-Frankfurterin professionell als DJ im Elektronikbereich unterwegs. Ihre Spezialität ist Ambient, doch umfasst ihr Spektrum auch House, Disco, Trip Hop oder Filmmusik. Wirkungsstätten waren und sind neben Bars oder Raves diverse Dance- und Technoclubs, wie das Frankfurter Dorian Grey, das Münchner Ultraschall oder das Berliner Berghain. Seit 1996 ist sie zudem Sendungsmacherin bei dem unabhängigen Frankfurter Sender „Radio X“ und organisiert dort die „X-Fade DJ-Night“, wo tagtäglich DJs von 23 bis 2 Uhr live Musik auflegen. Sie selbst kann dabei auswählen aus 2000 eigenen Vinylplatten.
Die gebürtige Bayerin hat schon sehr früh Berührung zu Schallplatten gehabt. „Mein Vater hatte einen Plattenladen am Tegernsee“, erzählt sie. „Er hat mir aktiv einen Zugang zu Musik gegeben.“ Zur Einschulung bekam die kleine Maya einen portablen Plattenspieler nebst blauem und rotem Beales-Album geschenkt und liebte es, nach der Schule im väterlichen Plattenladen zu Stöbern in 70er-Scheiben. Die waren damals nicht retro, sondern brandaktuell. „Ich war immer musikaffin, das hat mich total interessiert.“ Elektronikpioniere wie Jean Michel Jarre oder Kraftwerk haben sie schon damals beeindruckt.
Zum Auflegen kam sie, als sie um 1990 herum nach Frankfurt zog. Und zwar ganz einfach: „Ich bin gefragt worden.“ Der Partyveranstalter und Clubmacher Hans Romanov fragte sie, ob sie in einer seiner neuen Bars auflegen will. Sie wollte. Und von da an zog es sie immer wieder zu den Plattentellern. „Man darf nicht immer warten, dass man gefragt wird“, merkt sie an, „man muss auch mal Initiative ergreifen.“ So hat sie sich ganz selbstbewusst in ihrem Frankfurter Lieblingsclub beworben, nachdem sie sich den Resident-DJ für Ambient erlebt hat. „Da wusste ich, dass ich das besser kann.“ Sie glaubt aber schon, dass die Technoszene auf ihrem Weg als DJ-Frau begünstigend gewirkt hat. „Das hatte so ein bisschen was Inklusives, alle durften mitmachen“, sagt Hirsch. „Da gab es halt jemanden wie Marusha – ich glaube schon, dass die Vorbildfunktion hatte und Rolemodel war.“
Trotzdem hat auch sie es erlebt, dass Männer sie nicht für voll nehmen. „Manchmal kommen Idioten zu dir und glauben, sie müssen erklären, wie es richtig geht“, erzählt sie. „Weil manche Männer Frauen auf bestimmten Positionen auch gar nicht sehen wollen.“ Aber sie betont auch, dass das nur sehr vereinzelt vorkommt.
Im Radiostudio greift Hirsch für ihren Ambient-Mix nun zu Jarres Equinoxe von 1978 und lässt die Platte erstmal gemutet auf dem Teller rotieren. Sie schnappt sich den Kopfhörer, hält ihn halb an ein Ohr und sucht den nächsten Song über den digitalen DJ-Multiplayer, in den sie einen USB-Stick mit Ordnern voller Songs gesteckt hat. Sie blättert zu dem Lofi-Electronic-Stück My Feelings von Buffalo Chilled Milk und lässt die chillige Nummer laufen. Lässig schlendert der Song mit warmen Synthielinien voran. Dabei hat die DJ das Tempo vorher leicht hochgeregelt. „Der Flow muss halt bleiben, das ist die Kunst“, weiß sie.
„Es gibt mittlerweile viel mehr Frauen, die auflegen“, stellt Antje-Maya Hirsch grundsätzlich fest. Das liege auch daran, dass der Zugang niedrigschwelliger ist und man heute auch problemlos ohne Vinyl mit einem DJ-Controller für 200 Euro auflegen kann. Und sie selbst greift ja längst stark auf digitale Tracks zurück, weil das günstiger ist und weniger Schlepperei. Dass es dennoch viel mehr DJ-Männer gibt, bekommt sie nicht zuletzt als Radiomacherin der DJ-Night zu spüren: Von ihren mehr als 30 Residents seien zurzeit nur zwei weiblich. „Ich lade immer wieder Frauen ein“, betont die Programmmacherin. Doch die seien oft zögerlicher. Woran das liegen mag, bleibt für die gestandene DJ-Frau auch rätselhaft. „Vielleicht ist es ein Erziehungsding, ich weiß es nicht.“
Berlin: Als Producerin oft für die Praktikantin gehalten
Anruf bei Julia Borelli in Berlin, wo die gebürtige Brasilianerin seit sechs Jahren lebt. Und arbeitet. Die 26-jährige Produzentin, Mixing und Mastering Ingenieurin, ausgebildet an der „Point Blank Musik School“ in London und dem „SAE Institut“ Berlin, gehört zum festen Stamm der „Riverside Studios“ in Kreuzberg. Sie hat ihre Qualitäten als Soundingenieurin im Vinylbereich aber auch schon bei anderen renommierten Studios, wie „Post Modern Mastering“ in Rio oder dem Berliner „Jazzanova Recording Studio“, unter Beweis gestellt. Als solche hat die junge Frau für Künstler aus der ganzen Welt gearbeitet, darunter Richie Hawtin, Hayden James, Anyma oder Novaa. Selbst Multi-Instrumentalistin, kreiert sie auch eigene Musik als Teil des Popduos Borelli mit ihrer Schwester und legt als DJ auf.
„Ich habe schon immer Musik geliebt“, sagt Borelli mit dem schwärmenden Ton einer Enthusiastin, was in ihrem Kosmopoliten-Englisch noch ein bisschen klangvoller klingt. Und die Affinität setzte bei ihr schon früh auch soundtechnisch an. „Im Auto meiner Eltern gab es am Radio einen Equalizer“, erzählt sie, „da habe ich immer den Sound fixiert.“ Auch zum Vinyl kam sie früh im elterlichen Haushalt, zu dem auch Platten gehörten. „Ich liebe Vinyl“, schwärmt sie. „Und ich war schon immer eine Album-Person. Für mich ist es die beste Art, Musik am meisten zu fühlen, vom Anfang bis zum Ende. Es ist eine Art, Musik aufmerksamer zu konsumieren.“ Ihre erste große Albumliebe: Miles Davis‘ Kind of Blue.
Doch trotz ihrer Weltklasse-Expertise von klein auf erlebt auch die erfahrene Soundfrau immer wieder, dass sie nicht für voll genommen wird. „So often“, stöhnt sie und schickt ein langgezogenes „Oh Goood“ hinterher. „Keiner denkt, dass ich die Ingenieurin bin.“ Wenn jemand ins Studio komme, werde sie eher für die Praktikantin gehalten oder die Social-Media-Beauftragte. „Als Frau musst du dich immer beweisen.“ Gerade der Plattenkosmos sei männlich konnotiert. „Consuming vinyl is more nerdier, and nerdy and smart is more connected to male.” Woran das liegt? An der Erziehung, glaubt Borelli: „Jungs und Mädchen werden unterschiedlich aufgezogen.“ Nach wie vor sollten Mädchen vor allem hübsch sein und Jungs klug und stark. „Das wird schon in der Kindheit geformt.“
Studien legen auch wirtschaftliche Gründe nahe
Erkenntnisse, die weit über selbsterfahrungsbezogene Thesen hinaus, hält Leandra Preissler bereit. Die 37-jährige Mannheimerin gehört zum Vorstand des 2020 gegründeten Verbands „Music Women* Germany“, der sich für mehr Geschlechtergerechtigkeit und Diversität in allen Gewerken der Musikbranche einsetzt und nicht-männliche Akteure sichtbarer machen und fördern will. „Es gibt immer noch eine unglaubliche Männerdominanz“, sagt die studierte Musikmanagerin und Mitinhaberin von „Pennywine Entertainment“, die bei der Popakademie Mannheim das Nachwuchsprogramm leitet.
Stark feststellbar sei das etwa nach wie vor im produzierenden Bereich, wie ihn Julia Borelli bespielt, „da Producing ein sehr technisch orientiertes Feld ist“. Die Heranführung daran finde mehr im Jungensbereich statt. Und dass speziell der Vinylkosmos eine auffallende Männerdomäne ist, dazu hält sie Aufschlussreiches aus mehreren Untersuchungen bereit. Etwa die Studie „Frauen in der Vinylkultur – geschlechterspezifische Unterschiede im Sammelverhalten von Schallplatten“, vorgelegt 2017 and der Hochschule der Medien Stuttgart.
„Es gibt eine wirtschaftliche Ebene“, erläutert Preissler zuvorderst. Durch den Gender-Pay-Gap – also den geringeren Verdienst aufgrund von minderer Bezahlung und weniger Vollzeitbeschäftigung infolge der primären Kinderzuständigkeit – müssten Frauen für ihr Geld mehr arbeiten, hätten weniger Freizeit und auch weniger Geld für die Freizeitgestaltung. „Und Vinyl ist das teuerste Produkt auf dem Musikmarkt.“ Geschlechtsunterschiede seien laut der Studie aber auch feststellbar mit Blick auf die Motivation für das Sammeln von Vinyl: Bei den Männern gehe es beim Sammelverhalten mehr um Status, Leistung und Wettbewerb, für Frauen zähle mehr die Musik an sich und das Teilen der Musik. „Frauen machen das viel mehr im Privaten und gehen nicht so in diesen Wettbewerb und das Zeigen der Sammlung.“
Angeboren ist das nicht, wie Preissler betont: „Das hat vor allem was mit der Sozialisation zu. Es spiegelt das, was die Gesellschaft hergibt.“ Dort müsse angesetzt werden. Es dürfe nicht schon in frühen Jahren geschlechterspezifisch so unterschieden werden. Es müssten Zugänge geschaffen werden, etwa in Form von DJ-Workshops. „Wir brauchen viel mehr Vorbilder, die wir highlighten, damit sich Frauen ermächtigt fühlen, dass sie auch in diesen Bereichen erfolgreich sein können“, appelliert die Music-Women-Vorständin. Und setzt nach: „Ich bin keine Befürworterin einer Quote, man sollte wegen seiner Fähigkeiten genommen werden. Aber das passiert nicht. Die Realität ist, dass eine Quote gebraucht wird. Es muss ein Diskurs stattfinden.“
Und weil der ja schon länger am Laufen ist, sind laut Preissler durchaus schon Veränderungen feststellbar. Beispiel DJs: Für das Jahr 2014 weist eine vom Bundeskultusministerium initiierte Studie „Frauen in Kultur und Medien“ bei den versicherungspflichtig beschäftigten DJs einen verschwinden geringen Anteil von 45 weiblichen zu 680 männlichen Acts aus. Doch hat sich die Zahl der Frauen im Vergleich zu 1995 immerhin fast verdoppelt. Leandra Preissler nennt das Beispiel Elektronik-Festivals: Da habe der Anteil männlicher DJs im Jahr 2012 bei 80 Prozent gelegen und nun 2022 bei 60 Prozent. „Man sieht die Veränderung.“
Unisono: „Es verändert sich etwas“
Und das stellen letztendlich alle Protagonistinnen dieser Vinylreise von Frau zu Frau quer durch die Republik unabhängig voneinander fest. Schwenk zurück nach Nürnberg an die Plattenladen-Theke des „Monoton“: „Man merkt an der Generation nach uns, dass viel mehr Frauen aktiver werden in dem Bereich“, stellt Kristin Soglondéy gegen Ende des Interviewgesprächs fest. „Es gibt eine Dynamik, dass Frauen mehr Lust haben, sich in diesem Kosmos einzubringen“, spürt Dominika Osowski.
„Es hat sich in den letzten 10, 15 Jahren viel verändert“, befindet auch Klaus Walter in Frankfurt. Nicht nur der Anteil von Musikerinnen sei stark angestiegen. Auch unter DJs seien Frauen längst nicht mehr eine solche Rarität: „Das wird immer selbstverständlicher.“ Und was sich vor allem auch verändert habe, gerade mit der jüngeren Generation, sei die Politisierung des Ganzen. Das sieht Julia Borelli in Berlin ähnlich: „Es wird besser“, meint sie mit Blick auf die Frauenlücke im Vinylbereich: „Ich habe das Gefühl, mehr Menschen entwickeln ein Bewusstsein dafür und versuchen, etwas zu ändern.“
Schnitt nach Hamburg auf das Sofa zu den vier DJ-Frauen von 45 Degrees. „In den letzten zwei, drei Jahren hat sich ziemlich viel getan“, das sieht auch Inger Schwarz so. Inzwischen tauchten häufiger Frauen auf dem Programm bekannter DJ-Männerbühnen auf. „Dass Frauen sich nicht trauen würden, das ist inzwischen nicht mehr so“, unterstreicht Miriam Dames. Gerade bei jungen Frauen habe sie nicht Eindruck, dass die schüchtern sind. Simone Schneider kann eine Veränderung auch in ihrem „Pure Soul Recordshop“ ablesen. „Es kommen immer mehr junge Frauen in den Laden.“ Praktikumsanfragen seien inzwischen zu 80 Prozent weiblich. The times they are a-changing. Am Ende sind nicht mehr Frauen die auffallenden Raritäten in den Plattenläden, sondern nur noch die Schätzchen aus Vinyl.
- Privataudienz mit Musiker
Privataudienz mit Musiker
Wohnzimmershows sind schwer angesagt: Für viele ist es ein intimes Konzerterlebnis, andere kritisieren den elitären Ansatz – Ein Streifzug durch die Republik
Diesmal ist es an Christina. Die Tür zu ihrer Wohnung steht weit offen, ihre Küche ist zu einer Bar umfunktioniert, ihr Wohnzimmer bevölkert von Leuten. Dicht an dicht hocken sie auf dem Boden, flächendeckend wie ein Teppich. Augen und Ohren sind auf den jungen Mann gerichtet, der gerade ein Cover des Oasis-Hits „Wonderwall“ spielt und singt. Beseelt stimmen sie ein in die Britpop-Hymne, viele wiegen sich: „Because maybe, you’re gonna be the one that saves me.“
Es klingt etwa stereotyp, was der Singer/Songwriter „Finner“ da an einem Sonntagabend in einem Darmstädter Hinterhaus zum Besten gibt. Überraschungen bietet seine Musik nicht. Das Besondere an seinem Auftritt ist vielmehr der private Austragungsort – auch für ihn „völliges Neuland“, wie er eingangs sagt. Und sich kurz darauf fragt: „Singt das Publikum hier hin und wieder mit?“ Nun, bei „Wonderwall“ muss er sich keine Sorgen machen. Funktioniert immer.
Darmstadt: „Bedroomdisco“ mit Expansionsbestrebung
Kein Neuland hingegen betritt hier das Veranstalterteam der „Bedroomdisco“-Reihe. Seit 2011 organisieren sie Konzerte im Privaten und das mittlerweile wegen des wachsenden Erfolgs außer in Darmstadt auch in Hamburg, Nürnberg oder Augsburg. Geld verdienen wollen sie damit nicht. „Das ist ein Liebhaberkonzept“, betont Mitinitiator Dominik Schmidt, der im Booking arbeitet und mit der Agenturszene gut vernetzt ist. Hundert Prozent der Einnahmen, die auf Spendenbasis mit einem Hut eingesammelt werden, gingen an die Musiker.
„Wir wollen Bands in einem schönen Rahmen präsentieren“, beschreibt Schmidt seine Motivation. Die Barriere zwischen Band und Publikum werde weggenommen. Und das Exklusive dabei spiele auch eine Rolle. „Man gewinnt den Eindruck, es kommt nicht jeder rein.“ Denn öffentlich angekündigt werden die Shows nicht: Man wird per Newsletter informiert und kann sich für eine Auslosung bewerben.
Die Bedroomdisco-Leute sind keinesfalls Pioniere in dem Metier. Sie sind Teil eines Trends, der seit ein paar Jahren in den Nischen alternativer Veranstaltungskultur boomt. Und der wiederum belebt neu, was im 18. und 19. Jahrhundert als Salon- oder Hausmusik zelebriert wurde: Konzerte im privaten Rahmen abhalten für geladene Gäste, allerdings eher in adeligen oder gehobenen bürgerlichen Kreisen.
Das heutige Spektrum reicht von Privatpersonen, die Musiker und Zuhörer zu sich nach Hause einladen, bis zu weltweit agierenden Agenturen, die Künstler in Wohnzimmer vermitteln. Es ist eine Möglichkeit, Musik sehr intim zu genießen. Aber es ist auch eine Privatisierung von Live-Kultur. Und die vollzieht sich im kleineren Darmstadt genau so wie in der Metropole Berlin.
„Es geht schon um diese Intimität“, sagt Elena Brückner. Seit mehr als acht Jahren veranstaltet sie unter dem Titel „Live in the living“ einmal im Monat Wohnzimmershows in der Hauptstadt. „Als ich angefangen habe, gab es so was hier nicht“, sagt die Schauspielerin, die das Konzept aus Holland nach Deutschland geholt hat. Ihr geht es darum, ein konzentriertes Publikum zu haben und eine Plattform für unbekannte Musiker zu bieten.
Berlin: „Es ist ein Mordsaufriss“
Für sie bedeutet das ganz schön viel Arbeit. Sie sucht Bands und Räume aus, karrt Getränke und Stühle an, danach bringt die Musiker meist bei sich zu Hause unter. „Es ist ein Mordsaufriss“, sagt sie. Das könne keiner rein ehrenamtlich leisten. Sie nimmt einen Obolus für Eintritt und Getränke und zahlt den Musikern eine Festgage. „Viel verdiene ich nicht, aber es kommt was dabei rum, sonst würde ich es nicht machen.“
Noch ganz neu dabei ist hingegen Peter Schneider, der das mit einem noch weniger öffentlichen Ansatz in Wedding betreibt. Der 51 Jahre alte Betreiber von „Abstecher Booking“ ist vor anderthalb Jahren von München nach Berlin gezogen und verfügte plötzlich über ein sehr großes Wohnzimmer. Dort ließ er schon ein paar Mal Musiker aus seinem Programm spielen in einem ganz privaten Rahmen vor Freunden. Teils hatte er keine andere Auftrittsmöglichkeit gefunden, teils gestaltete er es aber auch als private Zusatzshow.
„Die Intimität ist natürlich ganz wunderbar“, sagt er. „Man kann sich vorher und nachher mit dem Künstler unterhalten.“ Das habe etwas sehr Entspanntes. Und für die Gage gehe ein Hut rum. Er bucht Houseshows teilweise auch für tourende Acts an anderen Orten, wenn sich nichts anderes bietet. Aber er kennt auch zwei Musiker, die mittlerweile nur noch in Wohnzimmern spielen.
Für Stephen Burch ist es eine Möglichkeit, freie Tage auf einer Tour zu füllen. Der in Nürnberg lebende Engländer tritt auf als „The Great Park“ und hat schon eine Menge Houseshows gespielt. Angefragt wird er meist übers Internet. „Es ist intimer als in einem Club“, sagt er. Dadurch entstehe oft eine besonderere Atmosphäre.
Nürnberg: Die Intimität ist auch anstrengend
Aber die geringere Distanz zwischen Publikum und Musiker sei auch anstrengend. Es gebe keine Backstage, keinen Rückzugsraum, meist esse und übernachte man beim Gastgeber, die Auftritte seien mehr eingebettet in Gespräche mit dem Publikum, und man kenne die Kreise vorher nicht. „Nur Houseshows spielen wäre das letzte, was ich tun würde“, sagt er.
Ein Reihenhauswohnzimmer in Karlsruhe. Vor der Terrassentür hat sich die Band zwischen Gitarren und Verstärkern eingerichtet und wartet auf ihren Auftritt. Noch trudeln Gäste ein, Getränke unterm Arm, andere sitzen schon im Raum und plaudern mit den Musikern. Über Verkehrskreisel, zum Beispiel. Oder die Wahl der Instrumente. Doch sobald die Band anfängt, wird das Publikum mehr als eine Stunde lang mucksmäuschenstill sein und aufmerksam zuhören.
Karlsruhe: Gastgeberin auch aus egoistischen Gründen
„Man hat einen anderen Bezug dazu, als wenn man so ’ne Distanz zur Bühne hat“, sagt Gudrun Täther. Die Mathematikerin lädt seit 2012 Musiker in ihr gepflegtes Karlsruher Zuhause ein und tut das, wie sie selbst sagt, aus ganz egoistischen und pragmatischen Gründen. Sie ist eine Konzertvielgängerin, kommt aber als Nutzerin des öffentlichen Nahverkehrs nach Shows in anderen Städten nur schwer oder gar nicht mehr heim. „Für mich ist es bequemer, die Konzerte hier zu haben, als sich die Nächte um die Ohren zu schlagen.“
Gastgeberin war sie schon immer gern, aber diese Aufgabe hier erfordert eine besondere Logistik: Die Musiker übernachten bei ihr, da müsse sie bettentechnisch auch mal auf Nachbarn ausweichen. Ihre größte Sorge aber ist stets, das zu wenig Publikum kommt und zu wenig im Spendenhut landet.
Neben Bekannten und Kollegen lädt sie über Flyer auch Unbekannte ein. Und hat festgestellt: „Es ist überraschend, wie nett die Leute sind, die zu sowas kommen.“ Und wie ist es mit den Bands? „Eine Musikerin fand ich ein bisschen anstrengend“, erzählt sie. Ansonsten sei es stets angenehm. Klar, es gehe auch mal eine Lampe kaputt. „Aber das ist dann mal so.“
Berlin: „Ein krasser Kontrast zu Clubshows“
Ja, die kaputte Lampe in Karlsruhe. Desiree Klaeukens kann sich gut an das Malheur erinnern, als sie vorigen November im Hause Täther zu Gast war. „Ich hatte Angst, dass es ein teures Erbstück war“, sagt die 29 Jahre alte Musikerin aus Berlin. Anfangs sei es komisch gewesen, in so eine Privatsphäre einzudringen. Aber der Auftritt sei total schön gewesen. „So gar nicht Berlin, nicht hip, nicht stylisch.“ Das sei ein krasser Kontrast zu Clubshows vor hunderten Leuten und könne einen ganz schön auf den Teppich der Tatsachen holen.
Ihre Agentur habe die Idee gehabt, ein paar Wohnzimmershows als Vorbereitung auf eine größere Tour zu spielen. Für sie war das ein Sprung ins kalte Wasser, aber ein sehr besonderes Erlebnis. „Gerade für meine Musik ist es schöner, wenn es ruhig ist.“
Auch Sebastian Hoffmann, Booker bei der Berliner Agentur „Paper & Iron“ weiß um die Vorteile von Houseshows und hat sie auch schon genutzt für tourende Musiker: „Ich sehe das immer wie eine Mischung aus Off-Day und Konzert, Aufmerksamkeit ist garantiert, der Übernachtungsplatz ist nahe.“ Er hat diese Auftrittsalternative schon 2007/2008 in den USA kennengelernt, als er ein Jahr in Portland gelebt hat.
Damals, so erläutert er, sei das in eher aus einer Not heraus in der Punkszene entstanden: Aufgrund drakonischer Alkoholgesetze hätten junge Leute unter 21 Jahren keine Orte besuchen können, in denen Alkohol ausgeschenkt wird. „Es gab keine Möglichkeit, auf Konzerte zu gehen.“ Also veranstalteten sie ihre Konzerte zu Hause. „Das war ein politischer Akt, um eine Ungleichheit auszugleichen.“
Berlin: „Was ich negativ finde, ist die Exklusivität“
Auf die neuere und hierzulande wachsende Wohnzimmerkultur blickt er hingegen zwiegespalten. „Was ich negativ finde, ist die Exklusivität.“ Das Verlagern eines eigentlich öffentlichen Akts in den privaten Raum empfindet er auch als elitär. Auch wenn es unter dem Deckmantel der Authentizität gerne verkauft werde als romantisches Ideal. „Aber die Heterogenität des öffentlichen Raums fehlt einfach.“ Er sieht das auch als Ausdruck eines Rückzugs ins Private und Komfortable, da würden auch Mühen und Kosten gescheut.
„Das ist manchmal sehr bizarr“, sagt er. Er habe schon erlebt, dass da Leute über eine Internetplattform als Gastgeber vermittelt worden seien, denen der Musiker aus New York für ihre wohl situierte Villa dann doch ein bisschen zu alternativ war. Da gehe es dann eher darum, sich mit einem Musiker zu schmücken wie mit einem Einrichtungsgegenstand. In einer Konsumhaltung. „Das hat dann eher was von einer Privataudience mit einem Künstler.“
Ob das auch auf Christina in Darmstadt zutrifft, sei dahingestellt. Die Rolle als Konzert-Gastgeberin scheint ihr aber sichtlich zu gefallen. Beseelt lächelnd lauscht auch sie der Lagerfeuer-Musik von „Finner“. „Danke an Christina“, ruft einer der Veranstalter irgendwann über den Publikumsteppich zu. Sie winkt und lacht: „Gerne.“
- In den Niederungen der Gema
In den Niederungen der Gema
Ob Altstadtfest, Prunksitzung oder Kindersachenflohmarkt – wenn irgendwo Musik läuft oder Bands spielen, werden Gema-Gebühren fällig. Komponisten und Textern sichert die Organisation dadurch Einnahmen, treibt mit ihrer Bürokratie aber auch so manchen Veranstalter zur Verzweiflung
Heike Endres hat sich ein Kissen in den Rücken geklemmt, sie muss viel sitzen bei der Arbeit. Durch ihre Brille blickt die feingliedrige Sachbearbeiterin auf zwei Monitore. Links ein Online-Fenster mit Dokumentennummer und Barcode für ein Konzert demnächst in Leipzig, rechts der Scan eines Blatt Papiers mit einer Liste Songs, die dort gespielt werden. „Gema-frei“, hat die Veranstalterin per Hand dazugeschrieben. „Bitte Überprüfung der Musikfolge“, tippt Endres in das Hinweisfenster für die Kollegen. Es ist sehr ruhig in dem Büro, durch das offene Fenster dringt etwas Vogelgezwitscher herein. Doch das Hauptgeräusch hier ist das Klicken der Computermaus.
Es kommt nicht oft vor, dass die Gema sich über die Schulter blicken lässt. Die „Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte“ für Musik wirkt im Stillen, aber das mit weitereichendem Effekt: Jeder, der in Deutschland eine Veranstaltung mit Musik organisiert, ganz gleich, ob sie live auf einer Bühne gespielt wird oder von einem Tonträger an der Bar kommt, auch jeder Betreiber eines Ladens, in dem Musik läuft, bekommt es früher oder später potenziell mit der Gema zu tun.
Die Verwertungsgesellschaft verlangt Lizenzvergütungen für die öffentliche Aufführung und Nutzung von Musikstücken ihrer rund 74.000 in Deutschland angeschlossenen Musikautoren und Komponisten sowie von über zwei Millionen Rechteinhabern aus aller Welt. Das tut sie schon lange, ihre Anfänge reichen bin zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Während also jüngst in Europa und Deutschland die heiß diskutierte Urheberrechtsreform beschlossen und somit an die Anforderungen der Digitalgesellschaft angepasst wurde, hat die Gema längst tagtäglich mit Fragen von Nutzungsrechten zu tun und was dafür zu zahlen ist. Allerdings sind da statt Uploadfilter eher Formulare im Einsatz.
Und da heutzutage überall Musik läuft, im Konzertsaal, im Tanzclub, in der Kneipe, im Supermarkt, im Klamottenladen, auf dem Sportplatz, im Vereinsheim und nicht zuletzt im Internet, betrifft das immer mehr Menschen. Jedes öffentliche Ereignis mit Musikbeschallung muss eigentlich der Gema gemeldet werden – allein schon zur Überprüfung, ob hier Urheberrechte tangiert sind. Und wer sich nicht daran hält, dem drohen Strafzahlungen. Nachgespürt wird dem durch Mitarbeiter, die das Internet nach Events durchforsten und auch inkognito Veranstaltungen besuchen.
„Es geht um Wertschätzung für diejenigen, die hinter der Musik stecken“, betont Frank Bröckl, Leiter der Geschäftsstelle in Wiesbaden, einer von bundesweit noch fünf Lizenzierungsstandorten. In einer zunehmenden Event- und Erlebniskultur spielten die Produkte ihrer Mitglieder eine immer tragendere Rolle. Beispiel Musikfestivals. „Dieser Markt ist in den letzten Jahren extrem explodiert, was die Größe und Eintrittspreise angeht“, erläutert der junge Betriebswirtschaftler. „Und die Entwicklung haben sie im Sport auch, einfach 90 Minuten Fußball gucken ist nicht mehr, das ist mittlerweile ein Event.“
Dass indes auch ein ehrenamtlicher Kindersachenflohmarkt mit Hintergrundmusik eigentlich bei der Gema angemeldet werden muss und im Falle des Abspielens von Musik ihrer Lizenznehmer auch eine Vergütung fällig wird, ist längst nicht jedem klar. „Wir unterscheiden nicht zwischen Groß und Klein“, betont Bröckl. „Wir unterliegen ganz klar einem Gleichbehandlungsgrundsatz.“ Die Berechnung der Vergütung geschieht dabei auf Grundlage von Größe der beschallten Fläche, Anzahl der Besucher und Höhe des Eintritts.
Um dabei angesichts wachsender Anforderungen ökonomischer Arbeiten zu können, hat die Gema zum 1. Juli 2016 eine grundlegende Umorganisation vorgenommen: Zuvor wurde die Musiknutzungsmeldungen regional in Bezirksdirektionen bearbeitet, nun heißen diese Geschäftsstellen und rechnen branchenspezifisch ab.
So ist man in Wiesbaden nicht mehr für alle Musikereignisse in der Umgebung zuständig, sondern bundesweit speziell für die Bereiche Karneval, Handel, Gesundheits- sowie Bildungswesen. Die Post wird seither zentral über Berlin abgewickelt. Und Anrufer landen nicht mehr vor Ort, sondern gebündelt in einem zentralisierten Kundencenter in Dresden.
Deswegen bleibt das Telefon auf Heike Endres Bürotisch nun auch meist still, und sie kann ungestört ihrer Arbeit nachgehen. „Das ist eine große Erleichterung für uns“, stellt die kaufmännische Angestellte fest. Ihr Chef hört das gerne. „Genau deswegen haben wir diese Umstrukturierung gemacht, sie können nun viel fokussierter Arbeiten als vorher“, erläutert er mit Blick auf die knapp 50 Mitarbeiter in Wiesbaden, die pro Tag 1000 bis 1200 Vorgänge bearbeiten. „Vorher hat ständig das Telefon geklingelt.“Doch am anderen Ende der Leitung kommt die neue Struktur nicht überall gut an und hat viel Verwirrung gestiftet. Veranstalter erhielten plötzlich monatelang keine Abrechnungen und waren irritiert, dass sie in ihrer gewohnten Bezirksdirektion niemand mehr erreichten. Denn dass es eine Umstrukturierung gab und vor Ort nicht mehr angerufen kann, hat die Gema längst nicht jedem mitgeteilt.
Gelitten hat etwa Rembert Stiewe, bei dem Plattenlabel Glitterhouse im nordrhein-westfälischen Beverungen für das jährliche „Orange Blossom“-Festival zuständig. Als er im Vorfeld wie gewohnt bei der Gema anrief, kam nur die Ansage, die Nummer sei nicht vergeben. Das neue Online-Formular habe er nur über Umwege finden und herunterladen können. Und Wochen nach der Veranstaltung hat er noch immer keine Rechnung erhalten.
Damit das keiner falsch versteht: „Ich finde die Vergütung von Urheberrechten prima“, stellt Stiewe klar. „Aber wie vieles in Deutschland ein bisschen überreguliert und überbürokratisiert.“ Er fragt sich, wie die vielen nichtprofessionellen Veranstalter, die es gibt, das bewältigen sollen.
Das bekrittelt auch Martti Trillitzsch, Musiker, Labelbetreiber und Veranstalter aus Fürth bei Nürnberg, der als „Mäkkelä“ Live-Bühnen und Tonträger bespielt. Er hat monatelang irritiert auf Abrechnungen gewartet, dann wurden ihm plötzlich nicht nachvollziehbare Mahnungen geschickt, und erreicht hat er ewig niemanden. „Das ist ein neues Level“, moniert er. Früher habe man bei seiner Bezirksdirektion auf Anruf Fragen schnell klären können.
Nicht nur deswegen ist der Halbfinne bereits vor Jahren mit seinen Songs zur finnischen Verwertungsgesellschaft gewechselt. „Ich habe da eine wesentlich bessere Kontrolle und bekomme mehr als das Doppelte raus.“ Rund 3000 Euro nehme er im Jahr für die Musikrechte ein. „Gerade für Musiker ab des Mainstreams ist das eine wichtige Einnahmequelle“, betont er.
„Wenn man Gema hört, kriegt der Normalnutzer Ausschlag“, schimpft Monika Paula Brechtl vom Bund der Gemazahler, der 2011 gegründet wurde und mittlerweile 1500 Mitglieder vertritt. Im Zuge der Zentralisierung sei auch ihrer Wahrnehmung nach hinlängliches Chaos entstanden. Die Neustrukturierung hält sie für einen Rückschritt: „Als es die Bezirksdirektionen noch gab, konnte man mit denen reden. Schnell was klären, gibt’s nun nicht mehr.“
Beim Bundesverband der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft sieht man das ähnlich: „Für unsere Mitglieder sind Problemlösungen auf dem kurzen Dienstweg damit leider schwerer geworden“ sagt Präsident und Geschäftsführer Jens Michow. Die Festschreibung einer angemessenen Vergütung für Musikautoren hält auch er für unerlässlich. „Die Geister scheiden sich allerdings immer wieder bei der Frage, was denn tatsächlich angemessen ist.“ Und bei allem Gleichbehandlungsgebot gibt der Jurist zu bedenken: „Es gibt durchaus Fälle, in denen Einzelfallregelungen zu treffen sind.“
Aber genau das ist nicht mehr erwünscht, wie eine Sprecherin der Gema in München bestätigt. „Es ist natürlich immer nett, wenn man jemanden kennt, den man anruft“, räumt sie ein. Aber es müssten nun mal immer die gleichen Tarife angewandt werden, und das sei in einer Zentralisierung viel leichter zu gewährleisten. „Wir haben die Aufgabe, so effizient wie möglich zu arbeiten.“ Und das betreffe nicht zuletzt die Personalkosten. Aus wirtschaftlichen Gründen wurde deshalb im Zuge der Umstrukturierung auch die Bezirksdirektion Dortmund stillgelegt. Die rund 80 Mitarbeiter sind laut Schilcher auf andere Stellen verteilt worden.Für Heike Endres hat sich nichts geändert. Seit mehr als 30 Jahren arbeitet sie am Gema-Standort in Wiesbaden. „Im Prinzip macht man dasselbe wie früher, nur deutschlandweit“, stellt sie fest. Dabei lerne man natürlich viele neue Orte kennen. Zum Beispiel das Konzert in Leipzig, das sie gerade auf dem Bildschirm hat, das sei in einer Kunstgalerie, wo öfter No-Name-Bands spielen. Wenn die „Gema-frei“ auf das Formular schreiben, stimme das schon.
Und wenn sie mal die Meldung eines Konzerts bearbeite, das gut klingt und in der Nähe ist, schaue sie dort auch mal selbst vorbei. Aber ganz privat. „Ich gehe selbst sehr gerne auf Konzerte“, sagt Heike Endres – und betont bei der Verabschiedung. „Wir sind alle keine Bösewichte hier“. Dann klickt wieder nur die Computermaus.